Turnhalle des TVG wurde vor 100 Jahren eingeweiht Wechselvolle Geschichte
„Living history“ – mit diesem Schlagwort beschreibt TVG-Vorstandsmitglied Susan Iwai das Gebäude, zu dem außer dem 360 Quadratmeter großen Turnsaal eine komplette Unterkellerung, Bühne, Hausmeisterwohnung und Abstellräume unter dem Dach gehören. In einem befinden sich Wandzeichnungen, die wahrscheinlich von sowjetischen Zwangsarbeitern stammen, für die während des Zweiten Weltkriegs die Halle zum Lazarett umfunktioniert worden war (wir berichteten).
Nach wie vor wird die Halle rege genutzt: Leichtathletik, Tischtennis, Seniorengymnastik, Kinderturnen, Boxen, Yoga und weitere Kurse füllen den Belegungsplan unter der Woche. An einigen Wochenenden im Jahr veranstalten auswärtige Gardetanzgruppen und ein Karateverein extra Trainingscamps in Gersfeld, um auf dem besonderen Schwingboden zu trainieren. Der hölzerne Hallenboden ist auf Pfosten montiert und lässt sich im Keller von unten betrachten.
Iwai stammt ursprünglich aus Kanada und engagiert sich im TVG als Kassiererin. Gemeinsam mit der Zweiten Vorsitzenden Rieke Trittin durchforstete die 65-Jährige im Vorfeld des 100. Jubiläums das Vereinsarchiv. Außerdem sammelten sie über einen Aufruf in unserer Zeitung historische Fotos. Bis zum Bau der Stadthalle Anfang der 90er-Jahre war die Turnhalle das sportliche, kulturelle und gesellschaftliche Zentrum der Rhönstadt, in dem neben Sport auch Schul- und Karnevalsveranstaltungen, Kirmes, Tanzabende, Kino- und Theateraufführungen stattfanden. Viele Gersfelder und Gersfelderinnen nahmen ihre Abschlusszeugnisse feierlich in der Turnhalle entgegen. Trittin erinnert sich besonders gerne an die Adventsfeiern, die der TVG alljährlich für die Vereinskinder ausrichtete, „mit riesigem Weihnachtsbaum und Besuch vom Nikolaus“.
Nur noch aus Erzählungen Älterer weiß die 41-Jährige, dass sich früher auf der noch heute existierenden Empore die Garderobe befand und eine Rutsche in den Saal hinabführte. „Wenn die Leute nach einer Veranstaltung dort ihre Jacken holten, ging es anschließend die Rutsche hinunter.“ Leider sei bis jetzt kein Foto aufgetaucht, auf dem diese Konstruktion zu sehen ist.
Weniger spaßig ging es am 9. November 1938 in der Turnhalle zu: Nach einer Kundgebung der NSDAP startete der Nazi-Mob von dort zum Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung.
Im Vereinsraum, dem ehemaligen Gastraum mit Theke und Durchreiche in den Saal, hatten Iwai und Trittin bis vor einigen Tagen Fotos und Dokumente sortiert. Mit weißen Stoffhandschuhen an den Händen blätterte Trittin vorsichtig in alten Alben, um einen Überblick über die spannende Geschichte der Turnhalle zu geben.
Zum Bau entschloss sich der Turnverein im Januar 1924, nachdem ihm der Pachtvertrag des bis dahin zum Turnen genutzten Saals einer Gaststätte gekündigt worden war. Obwohl die Inflation bis zum Baubeginn die angesparte Summe wertlos machte, hielten die Mitglieder an dem Vorhaben fest. Durch Spenden, den Verkauf von Anteilsscheinen (siehe Foto) und Eigenleistungen kam ein Teil des Geldes zusammen, der Rest wurde über Darlehen finanziert.
Voller Euphorie erfolgte im April der erste Spatenstich und bereits im September1924 konnte Richtfest gefeiert werden. Doch erneut machte die Inflation einen Strich durch die Rechnung und verteuerte allein die Baukosten um 28 000 auf 75 000 Mark. 1944 drohte die Kreissparkasse mit Zwangsversteigerung. Der TVG-Vorsitzende Hildebrandt sprang persönlich in die Bresche, obwohl sich das Vereinseigentum zu jenem Zeitpunkt in Händen der Heeresverwaltung befand, die es als Lazarett nutzte. Nach dem Krieg wurde die Halle von den Amerikanern beschlagnahmt, und der Verein musste wie jeder andere Nutzer Miete zahlen.
Als der TVG „nach langwierigen Verhandlungen“ 1948 sein Eigentum zurückerhielt, war es „völlig herabgewirtschaftet“, so ein Chronist. Anträge auf Entschädigungszahlungen oder anderweitige staatliche Zuwendung blieben erfolglos. Nach der Instandsetzung belief sich der Schuldenstand des Vereins 1959 auf rund 40 000 D-Mark. Hinzu kam eine 10 000 Euro-Nachforderung des Finanzamts. Diese Situation veranlasste den Chronisten zu der bitteren Bemerkung: „Viele Millionen werden für Neubauten ausgegeben! Obwohl unsere Notlage bis in die höchsten Stellen bekannt ist, wird dem kleinen Landturnverein nicht geholfen.“
Aber immerhin wurde die Halle wieder sportlich genutzt - nicht nur vom Verein, sondern auch von den Schulen, „den Gendarmeriebeamten bei ihren dienstlich angesetzten Leibesübungen“ oder dem Bundeswehrlager Wildflecken. Bei Überbelegung der Jugendherberge stellte der Verein die Halle kostenlos als Notunterkunft zur Verfügung.
1970 wurde die Wetterseite verschindelt, Gerüchten zufolge wegen des Rhön-Besuchs von Astronaut Neil Armstrong, in dessen Verlauf er am 8. August 1970 auch an der Turnhalle Station machte.
Wie ist die Hundertjährige in Schuss? Seit den 70er Jahren sind an der Halle keine größeren Renovierungsmaßnahemen durchgeführt worden. Vor fünf Jahren renovierten Vereinsmitglieder in Eigenleistung den Fußboden, in diesem Jahr sollen Türen und Fenster gestrichen werden. Auch eine Erneuerung der Buntsandsteintreppe im Außenbereich ist vorgesehen. 2010/11 beauftragte der damalige Vorstand eine Begutachtung, in der Sanierungsbedarf, insbesondere für Fundament und Dach, hervorging. Die damalige Kostenschätzung für eine grundlegende Sanierung belief sich auf 3 Millionen Euro. Nun sucht die sportliche Hundertjährigen Geldgeber für die Sanierung!